Detaillierte Stellungnahme zur rechtlichen Situation des Niqabs am Steuer

Detaillierte Stellungnahmen zu den aktuellen Verfahren vor dem VG Berlin (VG 11 K 61/24) und vor dem VGH Baden-Württemberg (13 S 1456/24)

Im Oktober 2017 trat in Deutschland das Verbot zur Verschleierung im Straßenverkehr in Kraft – ein Verbot, das es Niqab-Trägerinnen unmöglich macht, legal Auto zu fahren. Ironischerweise fiel dies zeitlich mit einem Meilenstein in Saudi-Arabien zusammen: Frauen erhielten dort erstmals das Recht, ein Auto zu führen. Während Saudi-Arabien damit einen überfälligen Schritt in Richtung Gleichberechtigung machte, entschied sich Deutschland für einen Rückschritt und verstärkte die Diskriminierung religiöser Minderheiten. Dieses Verbot wurde nicht etwa aus tatsächlichen Sicherheitsbedenken heraus eingeführt, sondern folgt einer klaren politischen Agenda, die sich gezielt gegen die Vollverschleierung richtet.

Diese politische Haltung wurde bereits 2016 auf dem Bundesparteitag der CDU von der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel klar und unmissverständlich geäußert:
„Die Vollverschleierung sollte verboten sein, wo immer das rechtlich möglich ist. Sie gehört nicht zu uns.“ Diese Aussage markierte den Beginn einer Reihe von gesetzlichen Maßnahmen, die gezielt darauf abzielten, Niqab-Trägerinnen aus verschiedenen Lebensbereichen zu verdrängen. Dazu zählen das Verbot der Verschleierung im öffentlichen Dienst, in Schulen, bei Soldatinnen und letztlich auch im Straßenverkehr. Diese Maßnahmen zielen nicht auf die Lösung realer Probleme ab, sondern greifen unverhältnismäßig in die Religionsfreiheit ein – ein Grundrecht, das insbesondere Minderheiten vor derartigen Eingriffen schützen soll.

Die Föderale Islamische Union e.V. (FIU) wurde vor dem Hintergrund dieser gezielten Einschränkungen religiöser Praktiken gegründet. Als Organisation setzen wir uns gezielt dafür ein, die Rechte der Muslime als religiöse Minderheit in Deutschland zu schützen und Eingriffe in ihre Grundrechte entschieden zu bekämpfen. Bereits im Jahr 2019 haben wir mit einer Betroffenen aus Schleswig-Holstein die erste Ausnahmegenehmigung für das Tragen eines Niqabs im Straßenverkehr rechtlich durchgesetzt. Dieses wegweisende Verfahren zeigte, dass eine individuelle Prüfung möglich ist und zu verfassungskonformen Lösungen führen kann. Um weiteren betroffenen Musliminnen praktische Unterstützung zu bieten, haben wir einen Musterantrag entwickelt, der auf unserer Homepage zugänglich ist. Damit leisten wir nicht nur juristische Unterstützung, sondern setzen auch ein starkes Zeichen für den Schutz der Religionsfreiheit als zentrales Grundrecht in einer pluralistischen Gesellschaft.

Wir betrachten das Verbot der Verschleierung im Straßenverkehr als einen unrechtmäßigen Eingriff in das Grundrecht der freien Religionsausübung. Es widerspricht den Prinzipien einer pluralistischen Gesellschaft, eine Frau vor die Wahl zu stellen, entweder ihre religiöse Überzeugung aufzugeben oder auf Mobilität – und damit auf Freiheit und Unabhängigkeit – zu verzichten. Mobilität ist ein Grundpfeiler moderner Gesellschaften, der allen Menschen gleichermaßen zugänglich sein muss. Gezielt eine kleine religiöse Minderheit von diesem Recht auszuschließen, ist nicht nur diskriminierend, sondern stellt auch einen besorgniserregenden Präzedenzfall dar, der die Bedeutung der Religionsfreiheit als unverzichtbares Grundrecht untergräbt.

Neben zahlreichen weiteren Fällen religiöser Diskriminierung, die wir begleiten, engagiert sich die FIU aktuell für etwa 20 muslimische Frauen in Deutschland, die vom Niqabverbot am Steuer betroffen sind und juristisch dagegen vorgehen. Nach unseren Schätzungen betrifft dieses Verbot etwa 100 bis 200 Frauen deutschlandweit. Eine verschwindend geringe Zahl, die die Absurdität dieser Regelung besonders deutlich macht. Ein noch drastischeres Beispiel ist das Verbot der Vollverschleierung für Soldatinnen – eine Vorschrift, die vermutlich keine einzige Person betrifft. Diese Umstände zeigen klar, dass das Verbot nicht auf tatsächlichen Sicherheitsbedenken oder realen Herausforderungen beruht, sondern auf reiner Symbolpolitik, die gezielt auf Kosten einer ohnehin marginalisierten religiösen Minderheit betrieben wird.

Auch wenn dieses Verbot unserer Auffassung nach niemals hätte in Kraft treten dürfen, ist es mittlerweile geltendes Recht. Die Straßenverkehrsordnung (§ 23 Absatz 4 StVO) eröffnet jedoch ausdrücklich die Möglichkeit, für besondere Sondersituationen Ausnahmegenehmigungen zu erteilen. Der Niqab, eine religiös begründete Kleidungsvorschrift, stellt zweifellos eine solche Sondersituation dar, die durch das schrankenlose Grundrecht auf Religionsfreiheit gemäß Artikel 4 des Grundgesetzes geschützt ist.

Daher obliegt es den zuständigen Behörden, Anträge auf Ausnahmegenehmigungen mit besonderer Sorgfalt zu prüfen. Eine solche Prüfung muss eine umfassende Abwägung der widerstreitenden Interessen beinhalten, wobei die Religionsfreiheit als ein hohes verfassungsrechtliches Gut vorrangig zu berücksichtigen ist. Diese rechtliche Verpflichtung wird von den Behörden jedoch häufig missachtet. Stattdessen werden die entsprechenden Anträge routinemäßig und oberflächlich abgelehnt – so wie in diesem Fall durch die Berliner Senatsverwaltung für Mobilität, Verkehr, Klimaschutz und Umwelt, ohne die spezifischen Umstände des Einzelfalls angemessen zu berücksichtigen.

Besonders auffällig ist in diesem Zusammenhang der Vorschlag der Behörde, dieses Verfahren ohne mündliche Verhandlung zu führen. Eine solche Entscheidung verdeutlicht die oberflächliche Herangehensweise an diese komplexe Thematik. Eine mündliche Verhandlung hätte die Möglichkeit geboten, die tatsächlichen Gegebenheiten umfassend zu prüfen – insbesondere die Behauptung, der Niqab beeinträchtige die Rundumsicht oder stelle ein Sicherheitsrisiko dar. Doch anstatt diese Behauptungen durch eine visuelle Prüfung vor Gericht zu untermauern oder zu widerlegen, versucht die Behörde, das Verfahren auf eine rein schriftliche Ebene zu reduzieren. Dieses Vorgehen unterstreicht erneut, dass die Argumentation der Behörde nicht auf einer fundierten Prüfung beruht, sondern auf hypothetischen Annahmen, die einer genaueren Überprüfung nicht standhalten.

Die Religionsfreiheit als schrankenloses Grundrecht wird von den zuständigen Behörden häufig nicht angemessen berücksichtigt. Hypothetische Sicherheitsbedenken können und dürfen keinen Eingriff in dieses verfassungsrechtlich garantierte Grundrecht rechtfertigen. Anstatt die konkreten Umstände jedes Einzelfalls differenziert zu prüfen, wird eine schematische Ablehnungspraxis verfolgt, die der verfassungsrechtlichen Bedeutung der Religionsfreiheit nicht gerecht wird.

Die Behörde rechtfertigt ihre Ablehnungen mit Argumenten wie einer angeblich eingeschränkten Rundumsicht oder einer vermeintlich beeinträchtigten nonverbalen Kommunikation. Diese Behauptungen entbehren jedoch jeglicher sachlichen und rechtlichen Grundlage. Ein Niqab liegt eng am Gesicht an und kann nicht verrutschen, während die gesamte Augenpartie vollständig freibleibt. Tatsächlich beeinträchtigt der Sonnenschirm einer Baseball-Cap die Sicht deutlich stärker als ein Niqab.

Auch das Argument einer angeblich eingeschränkten nonverbalen Kommunikation im Straßenverkehr hält einer sachlichen Prüfung nicht stand. Die Verständigung zwischen Verkehrsteilnehmern erfolgt über eindeutige Handzeichen oder technische Mittel wie Blinker, Hupe oder Lichthupe – nicht über Gesichtsausdrücke. Diese vorgebrachten Gründe scheinen weniger reale Sicherheitsbedenken zu untermauern, sondern vielmehr die politischen Intentionen hinter dem Verbot zu verschleiern.

Der Wunsch, Fahrerinnen und Fahrer durch automatisierte Verkehrsüberwachungen wie Blitzer identifizieren zu können, mag nachvollziehbar sein, rechtfertigt jedoch keinesfalls einen Eingriff in die Religionsfreiheit. Artikel 4 des Grundgesetzes garantiert die Religionsfreiheit als vorbehaltloses Grundrecht, das nur in absoluten Ausnahmefällen eingeschränkt werden darf – und auch dann ausschließlich bei einem Konflikt mit einem anderen Grundrecht von gleichem verfassungsrechtlichem Rang. In solchen Ausnahmefällen ist eine sorgfältige und differenzierte Abwägung der betroffenen Grundrechte unerlässlich.

Ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahr 2019 unterstreicht diese Abwägung zwischen Grundrechten: Das Gericht entschied damals, dass die Religionsfreiheit eines Sikhs, der eine Befreiung von der Helmpflicht beim Motorradfahren beantragte, hinter dem Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit zurücktreten musste. Die Begründung stützte sich auf die hohe und realistische Gefahr tödlicher Verletzungen bei einem Motorradunfall ohne Helm. Eine solche Gefahr besteht jedoch beim Tragen eines Niqabs am Steuer nachweislich nicht. Der Niqab beeinträchtigt weder die Verkehrssicherheit noch erhöht er das Unfallrisiko, wie bereits umfassend dargelegt wurde.

Auch die Behauptung, dass die fehlende Identifizierbarkeit der Fahrerin bei Verkehrsverstößen ein erhöhtes Risiko darstellt, ist unbegründet. Es existieren keine Anhaltspunkte dafür, dass Niqabträgerinnen aufgrund ihrer Verschleierung häufiger gegen Verkehrsregeln verstoßen. Solche Unterstellungen sind nicht nur unbelegt, sondern laufen auf eine ungerechtfertigte Vorverurteilung hinaus, die weder sachlich noch rechtlich gerechtfertigt ist.

Setzte man diese Logik konsequent um, müsste das Fahren von Motorrädern in Deutschland vollständig untersagt werden, da auch Motorradfahrer durch automatisierte Verkehrsüberwachungen wie Blitzer nicht eindeutig identifizierbar sind. Mit knapp 19,9 Millionen Personen, die in Deutschland über eine Motorradfahrerlaubnis verfügen (Stand 2023), repräsentiert diese Gruppe ein ungleich höheres potenzielles Risiko als die geschätzten 100 bis 200 muslimischen Frauen, die einen Niqab tragen.

Selbst wenn hypothetisch ein erhöhtes Risiko durch die fehlende Identifizierbarkeit angenommen würde, könnte ein Eingriff in die Religionsfreiheit nur dann gerechtfertigt sein, wenn keine milderen Mittel zur Verfügung stünden, um diesen Schutz zu gewährleisten. Als solches milderes Mittel könnte beispielsweise die Vorgabe dienen, dass Ausnahmegenehmigungen ausschließlich für Fahrzeuge erteilt werden, die auf die Antragstellerin selbst zugelassen sind, verbunden mit der Verpflichtung zur Führung eines Fahrtenbuchs. Auf diese Weise ließe sich die Identifizierbarkeit der Fahrerin sicherstellen, ohne das Grundrecht auf Religionsfreiheit unverhältnismäßig einzuschränken.

Alternativ ließe sich eine Ausnahmegenehmigung an die Bedingung knüpfen, dass die Antragstellerin einen individualisierten Niqab trägt, der beispielsweise mit einem QR-Code oder einer von der Straßenverkehrsbehörde vergebenen Nummer versehen ist. Diese Maßnahme würde eine Identifikation der Fahrerin selbst bei der Nutzung fremder Fahrzeuge ermöglichen – eine Möglichkeit, die bei anderen Verkehrsteilnehmern ohne Niqab nicht gewährleistet ist. Dadurch könnte die Sicherheit zur Identifizierung im Straßenverkehr sogar über das bisherige Maß hinaus erhöht werden.

Wir halten daher unverändert an der Rechtsauffassung fest, dass ein Anspruch auf eine Ausnahmegenehmigung rechtlich besteht. Die Praxis der pauschalen Ablehnungen durch die zuständigen Behörden ist nicht nur ermessensfehlerhaft, sondern widerspricht sowohl den Vorgaben der Straßenverkehrsordnung als auch der verfassungsrechtlichen Bedeutung der Religionsfreiheit. Das Oberverwaltungsgericht Münster hat dies in einem vergleichbaren Fall klar festgestellt und hervorgehoben, dass die Behörden ihrer rechtlichen Verpflichtung, Anträge auf Ausnahmegenehmigungen sorgfältig zu prüfen, nicht ausreichend nachkommen.

„Die Klägerin hat aufgrund ihres Antrags auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung nach § 46 Abs. 2 Satz 1 StVO einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Bescheidung dieses Antrags, der noch nicht erfüllt ist, weil die Bezirksregierung den Antrag ermessensfehlerhaft abgelehnt hat.“
(Seite 46, Urteil OVG Münster, 8 A 3194/21)


„Ermessensfehlerhaft ist aber mit Blick auf den Zweck des gesetzlichen Verbots (siehe oben, unter A.II.2.b.cc.(1)(c)) die Annahme, dass das Verhüllungs- und Verdeckungsverbot auch der Gewährleistung der nonverbalen Kommunikation im Straßenverkehr diene.“
(Seite 49, Urteil OVG Münster, 8 A 3194/21)


„Die Ablehnung der Ausnahmegenehmigung mit der Begründung, dass die ungehinderte Rundumsicht nicht gewährleistet sei, ist ebenfalls ermessensfehlerhaft. Sie lässt die gebotene Auseinandersetzung mit dem Einzelfall der Klägerin vermissen.“
(Seite 49, Urteil OVG Münster, 8 A 3194/21)


Trotz dieser wegweisenden Entscheidung weigern sich die zuständigen Behörden deutschlandweit weiterhin, Ausnahmegenehmigungen zu erteilen. Selbst bei Vorliegen zwingender weltlicher Notwendigkeiten, wie etwa einer beruflichen Abhängigkeit vom Auto, lehnen sie die Anträge routinemäßig ab. Sie begründen dies mit der unzureichenden Identifizierbarkeit der Fahrerin, ohne sich ernsthaft mit der Möglichkeit einer Fahrtenbuchauflage oder anderen milden Mitteln auseinanderzusetzen. Diese Ablehnungspraxis führt dazu, dass die in der Straßenverkehrsordnung vorgesehene Möglichkeit von Ausnahmegenehmigungen faktisch ins Leere läuft. Ein solches Verhalten ist nicht nur rechtlich unhaltbar, sondern lässt die verfassungsrechtlich gebotene Abwägung der widerstreitenden Interessen gänzlich vermissen.

Besonders gravierend ist dabei, dass die Behörden die vom Bundesverwaltungsgericht klar geregelte Rechtslage verkennen. In dem bereits erwähnten Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, (BVerwG, 4. Juli 2019 – 3 C 24.17) hat dieses ausdrücklich festgestellt, dass bei einer rein religiösen Grundlage eine Ermessensabwägung zwingend erforderlich ist, bei der die Behörde die widerstreitenden Interessen prüft und gegebenenfalls mildere Mittel, wie die Führung eines Fahrtenbuchs, in Betracht zieht. Eine Reduzierung des behördlichen Ermessens auf Null setzt laut dem Gericht jedoch die zusätzliche Voraussetzung einer weltlichen Notwendigkeit voraus. Die Behörden ignorieren diesen Unterschied und setzen fälschlicherweise eine zusätzliche Notwendigkeit voraus, bevor sie überhaupt eine Ermessensabwägung vornehmen. Damit handeln sie entgegen der klaren Vorgaben des Bundesverwaltungsgerichts und umgehen die gebotene rechtliche Prüfung. Dieses Verhalten stellt eine erhebliche Missachtung der verfassungsrechtlich garantierten Religionsfreiheit dar.

Die Religionsfreiheit ist gerade vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte bewusst als schrankenloses Grundrecht ausgestaltet worden, um sie vor staatlicher Willkür und dem Einfluss politischer Strömungen zu bewahren. Dieses Recht auf freie Religionsausübung darf keinesfalls durch pauschale oder unbegründete Entscheidungen einzelner Behördenvertreter ausgehöhlt werden. Die Möglichkeit, eine Ausnahmegenehmigung zu erteilen, dient dabei als essenzielles Korrektiv, um sicherzustellen, dass individuelle Sondersituationen rechtlich und verfassungskonform berücksichtigt werden. Es ist unverzichtbar, dass diese gesetzlich vorgesehene Möglichkeit nicht durch Untätigkeit oder Gleichgültigkeit der Behörden faktisch ausgehebelt wird.

Wir setzen darauf, dass das Verwaltungsgericht Berlin die Bedeutung dieser grundlegenden Zusammenhänge erkennt und den Anspruch auf eine Ausnahmegenehmigung in diesem Fall bestätigt. Es ist entscheidend, dass die Verantwortung, die mit dem Grundrecht der Religionsfreiheit einhergeht, in der behördlichen Praxis konsequent Beachtung findet und nicht durch pauschale Ablehnungen untergraben wird.

Unabhängig vom Ausgang dieses Verfahrens bereiten wir bereits in parallel geführten Fällen eine Verfassungsbeschwerde vor. Dennoch hoffen wir, dass dieser Schritt hier nicht notwendig sein wird und dass sowohl das Gericht als auch die zuständigen Behörden die Weitsicht und Einsicht zeigen, um eine verfassungskonforme Lösung zu finden. Die Religionsfreiheit ist ein unveräußerliches Gut, das wir entschieden verteidigen – heute, morgen und in Zukunft.