Presseerklärung zum Verfahren VG 11 K 61/24 vor dem Verwaltungsgericht Berlin, sowie zum Verfahren 13 S 1356/24 vor dem Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg
Im Jahr 2017 trat in Deutschland das Verbot zur Verschleierung im Straßenverkehr in Kraft. Dieses Gesetz macht es Niqab-tragenden Frauen unmöglich, legal ein Fahrzeug zu führen. Das Verbot, das unter dem Vorwand vermeintlicher Sicherheitsbedenken eingeführt wurde, folgt einer klar erkennbaren politischen Agenda: die gezielte Einschränkung religiöser Ausdrucksformen muslimischer Frauen. Diese politische Stoßrichtung wurde bereits 2016 auf dem CDU-Parteitag von der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel unmissverständlich formuliert:
„Die Vollverschleierung sollte verboten sein, wo immer das rechtlich möglich ist. Sie gehört nicht zu uns.“
Dieser Satz bildete den Auftakt für eine Reihe von Gesetzen und Verboten, die Niqab-tragende Frauen aus verschiedenen Lebensbereichen verdrängen sollten – darunter Regelungen gegen die Verschleierung im öffentlichen Dienst, in Schulen, bei Soldatinnen und letztlich im Straßenverkehr. Solche Regelungen treten nicht nur die Grundrechte der Betroffenen mit Füßen, sondern stehen auch in einem deutlichen Widerspruch zu den Prinzipien einer pluralistischen Gesellschaft.
Bereits seit der Einführung des Verbots begleiten wir als Föderale Islamische Union (FIU) Frauen, die von dieser Regelung betroffen sind. Aktuell betreuen wir etwa 20 Niqab-tragende Frauen, die juristisch gegen diese Einschränkungen vorgehen. Nach unseren Schätzungen betrifft das Verbot deutschlandweit etwa 100 bis 200 Frauen – eine verschwindend geringe Zahl, die die Absurdität dieser Regelung unterstreicht. Besonders skurril erscheint in diesem Kontext das Verbot der Vollverschleierung für Soldatinnen, das vermutlich keine einzige Person betrifft. Solche Maßnahmen verdeutlichen, dass es nicht um echte Sicherheitsbedenken geht, sondern um Symbolpolitik, die gezielt auf Kosten einer ohnehin marginalisierten religiösen Minderheit betrieben wird.
Die Straßenverkehrsordnung (§ 23 Abs. 4 StVO) eröffnet ausdrücklich die Möglichkeit, für besondere Sondersituationen Ausnahmegenehmigungen zu erteilen. Die Behörde ist verpflichtet, Anträge auf solche Genehmigungen mit besonderer Sorgfalt zu prüfen und die Religionsfreiheit als ein hohes verfassungsrechtliches Gut entsprechend zu berücksichtigen. Dennoch lehnen viele Behörden Anträge routinemäßig und ohne hinreichende Prüfung ab. Dabei ignorieren sie nicht nur die spezifischen Umstände der Einzelfälle, sondern auch die rechtlichen Vorgaben.
Ein wegweisendes Urteil des Oberverwaltungsgerichts Münster aus dem Jahr 2024 bestätigt, dass eine Ablehnung solcher Anträge nur nach einer differenzierten Prüfung zulässig ist. Das Gericht stellte klar, dass selbst hypothetische Sicherheitsbedenken keinen pauschalen Eingriff in das Grundrecht der Religionsfreiheit rechtfertigen. Vielmehr sind milde Mittel, wie etwa die Führung eines Fahrtenbuchs oder individualisierte Kennzeichnungen, vorrangig zu prüfen.
Ergänzend dazu hatte das Bundesverwaltungsgericht bereits in einem Urteil aus dem Jahr 2019 betont, dass eine Ablehnung von Ausnahmegenehmigungen nicht pauschal erfolgen darf, sondern eine sorgfältige Abwägung der widerstreitenden Interessen des Einzelfalls zwingend erforderlich ist. Das Gericht führte weiter aus, dass bei einem Antrag, der ausschließlich auf einer religiösen Grundlage beruht, eine Ermessensabwägung vorgenommen werden muss. Wird jedoch zusätzlich eine weltliche Notwendigkeit nachgewiesen, kann dies sogar zu einer Ermessensreduzierung auf Null führen. In einem solchen Fall würde der Entscheidungsspielraum der Behörde entfallen, und ein automatischer Anspruch auf eine Ausnahmegenehmigung – sogar ohne Auflagen – könnte gegeben sein.
In der Praxis zeigt sich jedoch, dass viele Behörden diese klaren Maßstäbe ignorieren. Statt wie gesetzlich vorgesehen zumindest eine Ermessensabwägung vorzunehmen, fordern sie häufig den Nachweis zusätzlicher weltlicher Notwendigkeiten, bevor sie überhaupt bereit sind, Anträge zu prüfen. Diese Vorgehensweise steht in direktem Widerspruch zur geltenden Rechtslage und untergräbt die Grundrechte der Betroffenen.
Die Religionsfreiheit ist ein unveräußerliches Gut und wurde gerade vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte als schrankenloses Grundrecht ausgestaltet. Sie dient dazu, staatliche Willkür und politische Einflussnahmen zu verhindern. Wir fordern daher die zuständigen Behörden und Gerichte auf, diesem wichtigen Grundrecht die notwendige Beachtung zu schenken. Eine Ausnahmegenehmigung gemäß § 23 Abs. 4 StVO ist nicht nur ein rechtliches, sondern auch ein gesellschaftliches Korrektiv, das die Rechte von Minderheiten schützt.
Wir hoffen, dass das Verwaltungsgericht Berlin, sowie der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg in diesen Verfahren den rechtlichen Vorgaben folgen und eine Entscheidung treffen, die dem verfassungsrechtlichen Stellenwert der Religionsfreiheit gerecht wird. Parallel dazu arbeiten wir an weiteren rechtlichen Schritten, um die Grundrechte der muslimischen Gemeinschaft in Deutschland nachhaltig zu schützen. In einem laufenden Parallelverfahren bereiten wir eine Verfassungsbeschwerde vor, die darauf abzielt, grundlegende Fragen zur Religionsfreiheit und zu den Voraussetzungen für Ausnahmegenehmigungen im Straßenverkehr zu klären. Diese Schritte sind notwendig, um sicherzustellen, dass Behörden ihre Verpflichtungen gegenüber der Religionsfreiheit respektieren. Denn dieses Grundrecht ist unveräußerlich – ein unverzichtbarer Pfeiler einer freien und gerechten Gesellschaft.
Für weitere Details und eine ausführlichere rechtliche Bewertung können Sie unsere
vollständige und detailliertere Stellungnahme hier einsehen:
>>Detaillierte Stellungnahme zur rechtlichen Situation des Niqabs am Steuer<<
Nachtrag zum Fall VG 11 K 61/24 vor dem VG Berlin:
Aufgrund eines Verkehrsunfalls kam es auf der Strecke unseres Anwalts zu einer Vollsperrung, wodurch er über 3 Stunden im Stau stand und den Verhandlungstermin nicht rechtzeitig erreichen konnte. Der Termin wurde daher auf den 27. Januar 2025 verschoben und findet nun zeitgleich mit der Verhandlung des Verfahrens 13 S 1456 / 24 vor dem VG Baden-Württemberg statt.